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Nicht nur aus allen Teilen Deutschlands, sondern sogar aus Israel, Österreich und Norwegen kamen die Tänzerinnen, die unter der Führung von Tadashi Endo den Butoh Tanz umsetzen wollten.
Butoh ist ganz einfach, kurz und salopp gesagt ein japanischer Ausdruckstanz, in dem es um das tanzende Improvisieren der grundlegenden Themen von Mensch und Natur geht. Gesteuert nur von den ureigenen, innersten Gefühlen im Austausch mit der jeweiligen Umgebung und den damit aufgefangenen Sinneseindrücken. Tadashi Endo hat einen ganz eigenen Tanzstil im Sinne des Butoh entwickelt, den er Butoh-MA nennt. MA bedeutet im Zen-Buddhismus einerseits "die Leere", andrerseits aber auch die "Räume zwischen den Dingen". In seinem Tanz werden diese "Zwischenräume" in den sehr feinen Verwandlungen sichtbar. Gerade die Momente der Verwandlung von einer "Figur" zur nächsten oder von "einem Bild" zum nächsten, mit beinahe unsichtbaren Bewegungen und einer intensiven Spannung, sind für Tadashi Endo wichtiger als die Darstellung derselben. Diese Spannung ist es, die er auch den Teilnehmern seiner Workshops näherbringen möchte. Zunächst versucht er, die Teilnehmer die Langsamkeit erfahren zu lassen. Die Übungen konzentrieren sich auf die Füße als Wahrnehmungsorgan und Verbindung zur Mutter Erde. Ist diese wichtige Stufe erklommen, fügt er den Übungen des langsamen Gehens Bilder hinzu, die in der Bewegung dargestellt werden sollen. Für das Verstehen seiner Tanzform gilt: nicht die expressive Bewegung ist wichtig, sondern das Innehalten und Nachgehen der Phantasie in einem Zustand der inneren Leere, der fast der Trance gleicht.
Seit Jahrtausenden fragen sich die Menschen schon nach dem Sinn des Lebens, ohne eine endgültige Antwort zu finden - und dann wird Helgoland aus im wahrsten Sinne des Wortes heiterem Himmel plötzlich mit der relativ einfachen Frage konfrontiert: was ist der Sinn von Butoh? Die Verwirrung ist perfekt, als Tadashi Endo mit seiner Performance-Gruppe durchs Oberland schreitet, die Treppe hinunter, den Lung Wai entlang bis zur Landungsbrücke. Die Körper und Gesichter weiß gemalt, halbnackt oder mit skurrilen, archaischen Kostümen. Tadashi voran mit seinem weiten, roten Umhang, geschminkt wie eine Geisha. Jede seiner Bewegungen ist kontrolliert, er führt die Gruppe souverän. Zehn Tage lang wurde einstudiert, was diese Performance ausdrücken soll. Die Menschen am Straßenrand, Tagesgäste, Urlauber, Helgoländer, zeigen sich anfangs ratlos. Aber sie beginnen nach Erklärungen zu suchen - und darin schon liegt ein Sinn.
Erste Station. Die Gruppe verteilt sich auf der Landungsbrücke. "Mensch und Natur" ist das Thema der Performance, das sich bis zum Schluß durchziehen soll. Die Akteure nehmen die Schwingungen um sich herum auf, setzen sie in Bewegungen um. Die eine Tänzerin öffnet weit die Hände, die Arme, den Mund, die Augen, um Himmel und das Meer in sich aufzunehmen und zu vereinen. Die nächste windet sich mit stillem Schrei am Boden, um den Kontakt zur Erde zu finden. Jede der zehn Butoh Tänzerinnen findet einen anderen Ausdruck für ihre Gefühle an diesem Ort. Und doch ist da eine gemeinsame Schwingung, die bei Tadashi Endo ihren Kontrapunkt findet, der gravitätisch in der Mitte der Landungsbrücke über der Szenerie zu schweben scheint und sie vereint. Viel Publikum läuft zusammen, hält aber rein instinktiv einen gebotenen Abstand. Es ist wie eine Intuition, ein unterbewußtes Zusammenspiel von Kräften zwischen Darstellern und Zuschauern - Butoh gebietet Respekt, auch wenn keiner sich erklären kann warum.
Zweite Station. Der Sportplatz mit seinem grünem Kunstrasen wird zu einem magischen Feld, das man sich nicht zu betreten traut, besetzt von den Akteuren der Gruppe, die sich zunäähst einstimmen. Anfänglich scheinen die Frauen für sich zu stehen, tanzen ihren Tanz, während Tadashi sich auf die Zuschauertribüne zurückzieht. "A-E-U!" klingt es plötzlich von verschiedenen Tänzerinnen abwechselnd. Die Möwen antworten auf die Schreie, sind voll mit im Spiel. Mensch und Natur. Das Echo bricht sich im Felsen. Hoch oben auf den Klippen sammeln sich die überraschten Zuschauer, Tagesgäste auf ihrem Inselrundgang, die sich mit Zurufen, die man wegen der Entfernung leider nicht verstehen kann, in die Szenerie mischen. Die Gruppe findet sich in der Mitte des Feldes zusammen. Wunderbare Frauenstimmen erklingen mit sehnsuchtsvollem, sphärischem Gesang. Darüber sammeln sich aufgeregt wieder einige Möwen und mischen sich mit schrillen Schreien ein. Die Stimmen klingen sachte aus und die Tänzerinnen verlassen langsam eine nach der anderen das Feld. Nur unzählige Bienen summen noch, als wollten sie fortführen, was hier begonnen wurde. Ein unbeschreiblich magischer Moment: Das Fußballfeld leer, die Bienen summen und niemals wieder wird es an diesem Ort so etwas geben. Niemals wieder wird hier Vergänglichkeit so nah gespürt werden können. Bald schon werden Männer über den Kunstrasen stürmen, mit heiserem Schrei den Ball verlangen. Man sieht förmlich ihre Schatten rennen, die Flanke von rechts, den Kopfball des Stürmers, die Parade des Torwarts - die Magie erlaubt eine Verschmelzung von Zeit, wenn man sich nur auf sie einläßt.
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